Spätestens seit Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ ist Pilgern wieder hoch in Mode. Allerdings sind die Beweggründe heute breiter gefächert. Früher zogen die Pilger los, um dem zuständigen Heiligen für die wiedererlangte Gesundheit zu danken, oder diese zu erbitten; man wanderte aus Buße für eine üble Tat oder um ein Gelübde zu erfüllen. Der moderne Pilger ist nicht zwangsläufig religiös motiviert, es geht auch um meditative Erfahrung oder Selbstfindung. Der Autor Reinhold Köster, vom MKV Stadtoldendorf zu einer Lesung eingeladen, verblüfft seine Zuhörer mit der Antwort auf seinen Antrieb: „Corona“ sagt er mit Augenzwinkern und wird gleich wieder ernst. Kurz davor sei sein Vater verstorben, was ihn sehr beschäftigte. Um dem erzwungenen Stillstand während der Pandemie zu entgehen bot sich eine Pilgerreise an, zumal der Braunschweiger Jakobsweg quasi an seiner Haustür in Hildesheim vorbeiführt. Minutiös vorbereitet, nutzte Reinhold Köster öffentliche Verkehrsmittel, die ihm oft erlaubten, nach einzelnen Etappen abends zu Hause sein Bier zu trinken. Auf der Strecke von Magdeburg nach Höxter hat Köster dabei einiges gesehen und erlebt. Am Ausgangspunkt tauchte er tief in die Geschichte ein, stieß auf die Spuren von Kaiser Otto, den Großen, in der Kirche St. Mauritius u. St. Katharina fand er die älteste bildliche Darstellung eines Afrikaners in der europäischen Kunst und, nicht ganz so alt, das Hundertwasserhaus. Im Abschnitt Dreileben – Marienborn widerfuhr im ein Missgeschick, über das er heute schmunzeln kann, damals war ihm nicht danach: Im überfüllten Zug stellte er seinen Rucksack aus Platzmangel auf den Schoß, bis er einen unangenehmen Geruch vernahm. Zu spät, die Soße von Gemahlin Lenis leckerem Hirtensalat hatte sich schon auf seiner Hose breitgemacht. Erklären Sie das mal einem. Nächste Etappe, nächste Peinlichkeit: nahe Räbke erschreckt unabsichtlich er eines Bauern Pferd dermaßen, dass es ausbüchst. Noch nicht genug Ärger? Am Telefon erklärt ihm eine Dame umständlich, die Anmeldezeit seines Rufbusses sei abgelaufen. Wieder zwei Stunden verloren. So erlernt der Pilger Demut und Gelassenheit. Die findet der Pilger dann auch in der Liesebach-Mühle, wo er sich seinen Pilgerstempel holen will. Dort wurde ein Dorfgemeinschaftsraum eingerichtet, wo wunderbare Konzerte stattfinden. An diesem Ruhe ausstrahlenden Ort trifft er die Katzen Richard und Hermine, benannt nach den letzten Müller-Ehepaar, das diese Mühle aufgegeben, und dem heutige Zweck zugeführt hatten. Historisch wird es wieder in Königslutter mit dem Kaiserdom, dessen Name täuscht, da es kein Bischofssitz ist. Allerdings liegt dort Kaiser Lothar mit seiner Richenza begraben. Aber Pilgern ist auch eins werden mit der Natur! Das erfährt Reinhold Köster intensiv an einem Biotop. Dort kann ein Schmetterling sich so gar nicht von ihm trennen. Einige Kilometer weit sitzt er brav auf Kösters Arm und leckt den salzigen Pilgerschweiß. Es ist ein heißer, trockener Sommer, der den Wanderern auf Feld und Flur viel abverlangt. Bei Riddagshausen kommt die Geschichte unangenehm daher: Hier betrieben die Nazis einen Schießplatz. „Über Braunschweig erzähle ich Ihnen nichts, das müssen Sie sich selber ansehen“, fordert der Autor seine Gäste im einstigen Braunschweiger Land auf.
Manchmal ist der Pilger auf fremde Hilfe angewiesen, beispielsweise, wenn er sich wieder einmal verlaufen hat. Köster fragte zwei Männer vom Straßenbau nach dem Weg nach Woltwiesche. „So so. Woltwiesche also. Wollen Sie dort auch ins Freudenhaus?“ Köster darauf verschmitzt: „Klar, wenn es ein Gotteshaus ist, dann schon.“
„In der Hildesheimer Börde“, so Köster, „ist die höchste natürliche Erhebung das Blatt der Zuckerrübe.“ Auch so lässt sich eine Landschaft beschreiben. Es gibt aber eine unnatürliche Erhebung, dort, die heißt im Volksmund „Kalimandscharo“, die riesige, weiß leuchtende Abraumhalde des Kalibergbaus. Dort im flachen Land hört er dann das vertraute „Buen Camino“, mit dem sich alle Jakobspilger einen guten Weg wünschen. Der Pilgerkollege, so erfährt Köster, hat den gesamten Jakobsweg bis Santiago mit dem Fahrrad bewältigt.
Auf der Wernershöhe lockt neben der offenen Kulturherberge auch ein offener Kühlschrank mit herrlichem Hefeweizen. Die drei Euro dafür wirft man in die Box, Vertrauen ist gut. Das Bierglas zeigt übrigens die Weltmeister von 1974, die Herberge setzt offenbar auf Beständigkeit. Die Kultur im Namen der Herberge findet man in einem sehenswerten Skulpturenpark. Ruhe und Inspiration, mehr braucht ein Pilger nicht. Ausführlich schildert Köster seinen Weg durch unseren schönen Landkreis. Den schweißtreibenden Aufstieg zur Homburg; den Stadtoldendorfer Mühlenanger; das altehrwürdige Kloster Amelungsborn; auf dem Weg nach Bevern verläuft er sich mal wieder; im Holzmindener Duftgarten flunkert eine Dame mit Rollator ihm etwas vor, bis er schließlich mit Corvey und Höxter sein Ziel erreicht.
Mit feinem Humor unterhielt Reinhold Köster sein Publikum, musikalisch begleitet von Nataliia (Viola) und David Rud (Piano), die passende Stücke aus unterschiedlichen Genres mit Schwung und Freude präsentierten.
Reinhold Köster stammt ursprünglich aus dem Oldenburger Land. Er hat im niedersächsischen Innenministerium gearbeitet, und hatte dann 35 Jahre lang im Landesrechnungshof ein Auge darauf, wofür das Land unser Geld ausgibt. Seit 2013 ist er im Ruhestand. Das „In-Sich-Gehen“, das Nachdenken ist es, was ihn am Pilgern so reizt. Und auch, wenn seine Reise nicht religiös motiviert war, sieht er in Kirchen immer auch Orte der Inspiration, ebenso wie die vielfältige Natur, die den Braunschweiger Jakobsweg so attraktiv macht.
Und wer weiß, vielleicht hat Köster den einen oder die andere ermuntert, auch einfach loszuziehen und „El Camino“, den Weg auf sich wirken zu lassen.
Das Buch „Meine Pilger-Erlebnisse auf dem Braunschweiger Jakobsweg“ ist im Ostfalia Verlag erschienen.